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Zwischen zwei Welten

Er ist in der Ukraine aufgewachsen, als Jugendlicher nach Deutschland ausgewandert und hat vor wenigen Monaten am Kantonsspital St.Gallen als Pflegefachmann angefangen. Obschon er seine Familie vermisst, möchte Valentin Prokopenko hierbleiben. Ein Gespräch über kulturelle Unterschiede, Verlust und Neuanfang.

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Text: Martina Kaiser
Foto: Reto Martin

Sie liegt gleich hinter dem Volleyballplatz, bei der grossen Kastanie, direkt am Ufer des Bodensees: Die Sitzbank, der Lieblingsplatz von Valentin Prokopenko. Sooft er kann, kommt er hierher, mindestens drei Mal die Woche. Er mag die Ruhe, das sanfte Plätschern des Wassers. Es erinnert ihn an glückliche Zeiten, eine unbeschwerte Kindheit in seiner Heimatstadt Krivoy Rog in der Zentral-Ukraine. Zusammen mit seinen beiden Geschwistern – einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester – wuchs er auf einem kleinen Hof nahe eines Flusses auf. Nach der Schule gab es zu Hause Aufgaben zu verrichten: Hühner füttern, Stall ausmisten, Pferde striegeln, Hof kehren. Anschliessend durfte er zusammen mit seinen Freunden an den Fluss. Streichhölzer, Salz, ein Messer und eine Angelschnur, «mehr brauchten wir nicht». Sie angelten und sassen dann einfach nur da, schauten ins Feuer oder sprachen über das, was sie mal werden wollten, wohin sie mal gehen wollten. Die meisten seiner Freunde von damals sind mittlerweile ausgewandert. Einige aber sind noch immer da.

Valentin Prokopenko beobachtet drei Entlein, die ihrer Mutter in einer Linie hinterherschwimmen. «Ich werde oft darauf angesprochen, auf den Krieg in der Ukraine. Es gibt Tage, da kann ich darüber sprechen, an anderen nicht, da kommt alles hoch.» Die Menschen hier am KSSG seien so einfühlsam, so verständnisvoll, «ich habe das noch nirgends so erlebt.» Valentin Prokopenko fühlt sich wohl hier, auf der Pflegestation der Chirurgie, wo er im April dieses Jahres angefangen hat, in seiner Wohnung im Personalhaus, im Fitnessstudio, das er regelmässig besucht, und allgemein in der Ostschweiz. Klar, er vermisse seine Familie, seine Freunde – aber auch andere Dinge: eine Suppe, «für welche die Ukrainer jeweils alles verwerten, was sie gerade im Kühlschrank vorfinden». Und Napoleon, eine Vanillecreme-Torte, die aussieht wie ein Pfannkuchen. «Die habe ich zum letzten Mal als Jugendlicher in der Ukraine gegessen.» Valentin Prokopenko ist heute 34 Jahre alt.

Überrascht ob der Unterschiede

Mit 15 verliess er seine Heimat, zog nach Deutschland wegen der Ausbildung, für eine bessere Zukunft. Im Saarland hatte er Verwandte, bei denen er unterkam. Er lernte rasch Deutsch, schloss die Schule ab, absolvierte die Ausbildung zum Anlagenmechaniker, später studierte er Wirtschaft und Elektroingenieurwesen. Kurz darauf hatte Valentin Prokopenko einen Unfall, der seinem Leben eine neue Richtung gab, wie er heute sagt. Er wollte mit Menschen arbeiten, entschied sich für eine Ausbildung zum Pflegefachmann und bewarb sich schliesslich auf ein Inserat des KSSG – und kam so in die Schweiz. Den Fachkräftemangel spüre er auch hier, «im Gegensatz zu dem, was ich in Deutschland erlebt habe, ist hier aber vieles besser organisiert», meint er. Überhaupt gebe es einige Unterschiede zu Deutschland und der Ukraine: «In der Ukraine musst du immer 110 Prozent geben, damit du überhaupt was erreichst – du versuchst einfach zu überleben. In Deutschland habe ich die Erfahrung gemacht, dass man sich oft in seiner Komfortzone bewegt. Und in der Schweiz, da arbeitet man zwar viel, dafür ist die Lebensqualität hoch, man kann einfach leben.» Auch seine Einreise in die Schweiz blieb ihm in Erinnerung: «Der Polizist am deutschen Zoll hat mir eine Menge Fragen gestellt – alles schön nach Checkliste. Dann kam ich zum Schweizer Zoll. Das Erste, was mich der Grenzbeamte gefragt hat, war: «Kann ich Ihnen irgendwie helfen, brauchen Sie etwas?»

Warten auf die Truppen

Dennoch hat Valentin Prokopenko Deutschland nicht ganz den Rücken gekehrt. Seine Eltern sind vor zehn Jahren ebenfalls ins Saarland ausgewandert. Seine Schwester und deren Kinder seien in Polen. Und sein Bruder? Valentin Prokopenko schluckt, kämpft mit den Tränen. Er sei noch da, im Osten, die russischen Truppen seien nah. «Wir sprechen uns jeden Tag.» Nach einer langen Pause ein flüchtiges Lächeln – «er hat mir erzählt, dass er sich jetzt um ein kleines trächtiges Kätzchen kümmert, während er wartet. Die Vorstellung ist irgendwie lustig, denn mein Bruder ist fast zwei Meter gross.» Vom Bruder seines Vaters habe er schon eine Weile nichts mehr gehört, ein anderer Onkel sei gefallen. Der Krieg habe ihn verändert. «Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mit dem Gedanken abfinden kann, dass ein Teil meiner Familie sterben wird. Dass es einfach okay ist, wenn jemand stirbt, der dir nahesteht.» Aber – und das sei ihm wichtig: «Viele Landsleute sind geblendet vom Hass, ich hege keinen Groll gegen die Russen, sie können nichts dafür.» Er selbst habe sehr viele russische Freunde, «die leiden auch.»

Was würde er sich von den Menschen in der Schweiz wünschen? «Dass sie sich ihre Neutralität bewahren.» Und allgemein, dass die Menschen ihre Menschlichkeit nicht verlieren würden, egal, was passiere.

Valentin Prokopenko sitzt immer noch da, am Ufer des Bodensees, den Blick auf das Wasser gerichtet. «Mein Bruder hat mal gesagt: Auf Feuer und Wasser kannst du immer schauen – ich denke, das stimmt.»

Hinweis: Das Gespräch mit Valentin Prokopenko fand zwei Monate nach seinem Stellenantritt Anfang Juni 2022 statt.

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